Weite, Wald und Wildnis

Einst war die Schorfheide das Jagdgebiet für die Reichen und Mächtigen. Heute ist sie ein Sehnsuchtsort für Naturliebhaber, die Heimat vieler Tierarten und für manche auch: eine Laborküche.

Vadim Otto Ursus, einer von Berlins derzeit spannendsten Köchen trägt den Bären („ursus“, lateinisch für „Bär“) zwar nur im Namen, aber sein Jagdgebiet sind der Wald und die Wiesen, die Felder und die Wegesränder. Der Bär hat Blumen gepflückt. Sein Küchentisch ist bedeckt von Calendulablüten in leuchtendem Gelb. Daneben körbeweise grüne Tomaten, zwei Bottiche mit eingelegten Gurken. Zwei Freunde sind zu Besuch, um die Tomaten zu portionieren. Irgendwann, nach dem Fermentieren, wird daraus ein aromatisches Chutney – oder was dem Bären bis dahin sonst noch so einfällt. Im Oktober eröffnet Vadim Otto Ursus sein mit Neugier erwartetes Restaurant Otto in Berlin-Prenzlauer Berg. Wer also die neueste Berliner Trendlocation sucht, der muss zuallererst in die Schorfheide fahren: Es geht durch Alleen und hügelige Landschaften, vorbei an einem See, einer Kuhherde. Am Ende einer langen Schotterstraße, hinter dem Örtchen Serwest, hat Vadim Otto Ursus einen alten DDR-Bungalow zur professionellen Gastroküche umfunktioniert. Die Hütte ist jetzt von Stahlträgern durchzogen. „Da könnte man ein halbes Schwein ranhängen“, sagt Ursus und lacht. Hier draußen findet der 27-Jährige Entspannung und Inspiration. „Es ist ein angenehmer Ausgleich zur Stadt. Ich mag dieses Hügelige. Und rundherum sind nur Demeter-Bauern, ich kann ohne Sorge die Kräuter vom Wegesrand pflücken. Die Schorfheide ist wahnsinnig schön.“

Das Waldgebiet Schorfheide ist Teil des UNESCOgeschützten Biosphärenreservates Schorfheide-Chorin und erstreckt sich im Norden ungefähr bis zur Uckermark, bis zur A11 im Osten, bis zum Finowkanal im Süden und bis zur Havel im Westen. Eine eiszeitlich geprägte Landschaft voll Wälder, Wiesen, Moore, Sümpfe und Seen, bevölkert von verschiedensten Tierarten, vom Fischotter bis zum Kranich. Seit über 700 Jahren ist die Schorfheide ein beliebtes Jagdrevier und blieb deshalb weitgehend von Rodungen verschont. In den letzten zwei Jahrhunderten nutzten zahlreiche historische Persönlichkeiten einzelner Epochen die Jagd in der Schorfheide zur Selbstbetätigung und -inszenierung. Bauliche Zeitzeugen sind unter anderem das Jagdschloss Hubertusstock und der dazugehörige Kaiserbahnhof Joachimsthal
sowie der Jagdsitz Wildfang am Pinnowsee. Und auch noch heute besuchen Touristen die Schorfheide speziell zur Jagd. Der Großteil der Besucher aber kommt in friedlicher Absicht: Die zahlreichen Seen, Fahrrad- und Wanderrouten locken Touristen und Berliner Tagesausflügler in das Brandenburger Waldgebiet.

Eine Laborküche inmitten von Wald und Wiesen

Vadim Otto Ursus kommt zum Arbeiten hierher. „Aber es fühlt sich nicht so an.“ Im alten Erdkeller neben dem Bungalow lagern die aktuellen Kreationen aus seiner Wald-und-Wiesen-Laborküche: Holunderblütenzucker, Sauerkirschlikör, eingelegte Mirabellen. Kiefernzapfen, die 12 Stunden in Sirup eingekocht wurden, schmecken wie weiche Waldpralinen: Die Schorfheide zergeht auf der Zunge. Seine Spezialität, das Fermentieren, hat der Koch sich selbst in der Ausbildung antrainiert. „Das ist beim Kochen noch mal eine Schicht mehr in dem, was man geschmacksmäßig machen kann“, sagt er. In großen Fässern und in einem umfunktionierten wärmenden Kühlschrank wird fast alles fermentiert, was Region und Saison hergeben. Wildschweinfond, Zwetschgen, Sellerie, grüne Erdbeeren. Die im Gärungsprozess entstehenden Aminosäuren sorgen für den Umami-Geschmack – jene fünfte Geschmacksrichtung, die als würzig und wohlschmeckend empfunden wird. Im Kräuterbeet blüht Kapuzinerkresse. Die Blätter der Studentenblume schmecken nach Orangenschalen, der Dill ist schon geerntet und in den Gurkenfässern gelandet. Nach seiner Ausbildung ist Vadim Otto Ursus durch die Welt gereist, um in den besten Küchen der Welt zu kochen: Das Gastspiel des Kopenhagener Noma in Mexiko gehörte zu seinen Stationen. Das Loco in Lissabon. Oder das Koks auf den Färöer Inseln. Der wahnsinnige Druck in den Sterneküchen, der militärische Drill, das hat sich ihm eingeprägt. „Für die kurze Zeit eines Praktikums konnte ich damit umgehen, aber langfristig will ich mir die Freude an meiner Arbeit erhalten. Und niemand will wirklich 17 Stunden am Tag arbeiten.“ In seinem Bungalow-Labor hat er sein eigenes Reich. Die Produkte kommen von kleinen Höfen aus der Region oder sind selbst gesammelt. Inzwischen kennt der Koch die Bauern. Unübliches wie grüne Tomaten kann er vorbestellen. Unerwünschtes wie Giersch oder Vogelmiere wird für ihn mitgeerntet und in seiner Küche veredelt.

Aber die Vielfalt der Schorfheide beschränkt sich nicht auf die Fauna. Das weiß auch Vadim Otto Ursus, der gerne mal einen Saibling zur Fischsauce fermentiert.

Wildpark gibt Wolf und Wollschwein ein Zuhause

Imke Heyter ist Leiterin des Wildparks Schorfheide, eines der beliebtesten Ausflugsziele der Region. Von der Presse wird sie gern „Wolfsmutter“ genannt oder „Die mit den Wölfen tanzt“. Doch der Wildpark beherbergt auch Luchse, Wisente, Elche, Przewalski-Pferde, Wollschweine, Auerochsen und mehr. „Wenn der Adler über mir kreist oder der Specht klopft, staune ich immer wieder“, sagt Imke Heyter. „Obwohl wir diese Nähe zu Berlin haben und auch gut angebunden sind, ist man hier draußen in einer anderen Welt.“ Imke Heyter ist in Niederfinow aufgewachsen, und wie so viele Bewohner und Besucher liebt sie den Werbellinsee, das Herzstück der Schorfheide. In eine Eiszeitrinne gebettet, von Wald umringt, liegt er da. Das Wasser mit einer Sichttiefe von drei Metern kristallklar, die Ufer gesäumt mit Badestellen, Ausflugslokalen, aber vor allem nahezu unberührter Natur. „Es gibt da ein Schlüsselerlebnis aus der Zeit, als ich in Westfalen studiert habe“, erzählt sie. „Da hieß es mal: Wir fahren baden! Und dann standen wir da, an einer Art Baggersee an einer Hochstraße, und ich dachte nur: Nee!“

Das Wasser habe ihr unheimlich gefehlt, erzählt die 47-Jährige. Und die Weite. „Wenn man dort aus einem Dorf herausfuhr, fuhr man direkt ins nächste hinein.“ Wer aber durch die Schorfheide streift, bekommt oft das ganz große Panorama geboten: sanfte Hügel, Wiesen und Wälder, lange Alleen. Imke Heyters Wildpark ist wie ein Konzentrat aus dieser Schönheit der Schorfheide und eine Kulisse für die Jahreszeiten. Im Sommer flimmern die Scherenschnitte der Wildpferde prärieartig in der Ferne. Im Herbst malt die Abendsonne goldene Umrisse um das Schwarz der Wisente. Im Winter schwebt der Nebel über den Weiden. Und zur Wolfsnacht ziehen die Besucher im Mondschein mit Fackeln durch den Wald. „Die Natur macht es einem hier sehr leicht, sie zu lieben. Sie haut mich regelmäßig um“, sagt Imke Heyter. Sie liebt
ihren Job – so wie Vadim Otto Ursus seine Schatzsuche in den Wäldern. Dankbare Koexistenz statt maßloser Jagd. Die Kaiser, die Nazis, das DDR-Regime – alle haben versucht, der Schorfheide ihren Stempel aufzudrücken. Und alle sind wieder verschwunden. Nur die Weite, der Wald und das Wasser, die sind geblieben.

Info
Die Gemeinde Schorfheide und der Naturpark Schorfheide-Chorin sind nicht identisch, haben aber viele Schnittmengen
und gehören größtenteils zum Barnimer Land.

Wildpark Schorfheide
Prenzlauer Straße 16
16244 Schorfheide OT Groß Schönebeck
wildpark-schorfheide.de

Text: Lydia Brakebusch, Fotos: picture alliance / blickwinkel/G. Wolf, Marianne Renella, Vadim Otto Ursus, Johan Schmidt, Christian Fischer, Peter Becker, picture alliance / imageBROKERveröffentlicht im Landurlaub Brandenburg 2020